
Es scheint, als käme ich in den letzten drei Monaten nur jeweils einmal dazu eine schöne Tour zu machen, was besonders im Hinblick auf die bevorstehende motorradlose Zeit eher unerfreulich ist. Ich hatte mit Freude den Wetterbericht für das Wochenende zur Kenntnis genommen, war am Samstag aber noch verhindert gewesen, doch den Sonntag ließ ich nicht ungenutzt verstreichen. Gegen 9 Uhr morgens tankte ich die NC voll und machte mich auf den Weg Richtung Müritz, die – so meine Erwartung – gerade im Herbst wunderschön sein musste. Immerhin handelt es sich um den größten zur Gänze in Deutschland liegenden Binnensee, mal vom Bodensee abgesehen, der ja, wie bekannt, zwischen Deutschland, der Schweiz und Österreich geteilt ist. Über Alt Tegel und Heiligensee, vorbei an teilweise beachtlichen, gutbürgerlichen Häusern, ging es Richtung Brandenburg. Der Kontrast zwischen West und Ost ist noch immer ersichtlich, da unmittelbar nach der alten Zonengrenze einige heruntergekommene Plattenbauten als Mahnmal des ehemals real existierenden Sozialismus Ostalgiker rasch in die Wirklichkeit zurückzuholen vermögen. Die diese ideologische Sackgasse ersetzende ‚Geiz-ist-geil-Gesellschaft‘ hatte ihre Einkaufs-tempel und Nahversorgungsgroßhandesketten etwas weiter in entsprechender Anzahl errichtet, und so gehen die letzten Relikte verblichener Visionen langsam aber sicher im Staub der Abrissbirne und der Schuttentsorgung unter.
Teilweise herrlichen Alleenstraßen folgend, ging es weiter über Velten, Johannisthal, Beez und Herzberg Richtung Neuruppin. Aus unerfindlichen Gründen schickte mich mein Navi dann plötzlich bei Radersleben auf eine dieser schrecklichen, aus der Kaiserzeit stammenden Kopfsteinpflasterstraßen, die der Alptraum eines jeden Genussfahrers sind. Sofern vorhanden, rollte ich mit 20 km/h auf dem engen Sandstreifen am rechten Rand dahin, und versuchte verbissen, den Schlaglöchern und angeschwemmten Schotterinseln auszuweichen, ohne dabei die Balance zu verlieren. Das war immer noch besser, als sich der Qual einer Ganzkörperschütteltortur auf der gepflasterten Straße auszusetzen. Nach etwa einem Kilometer waren des Kaisers Verfluchung nachgeborener Motorradfahrer durch ebenmäßige Klinkersteine ersetzt worden, die mich auf deutlich angenehmere Art durch einen verloren wirkenden Ort namens Pabstthum nach Wall führten. Einem eher versteckt stehenden hölzernen Wegweiser nach Wustrau folgend, ging es die Dorfstraße entlang bis zu einer schönen Wiese, an der die Straße im Nirgendwo der märkischen Sandbüchse endete. Ich zog mein allwissendes Navi zu Rate, aber die einzige Option, die es mir anbot, war umzukehren und die gleiche Strecke zurück nach Radersleben zu fahren. Ich glaube, wenn es gekonnt hätte, hätte es grinsend mit den Schultern gezuckt und mir die Zunge herausgestreckt…
Mit einem Anflug von Verachtung klemmte ich dieses unnötige elektronische Versatzstück wieder in seine Verankerung und rollte die soeben hinter mich gebrachten neun Kilometer interessanter Bikererfahrung zurück.
Kurz vor Altfriesack bog ich rechts ab, um über Karwe und Gnewikow den Ruppiner See entlang nach Neuruppin zu gelangen. Nach der Querung des Seedammes parkte ich die NC in der Schinkelstraße und machte mich auf den Weg zu den Denkmälern von Schinkel und Fontane.
Neuruppin war von 1688 bis zum Abzug der Roten Armee 1993/94 Garnisonsstadt gewesen, und die lange Militärpräsenz hat im Stadtbild ihre Spuren hinterlassen. Im Jahre 1787 war nahezu die gesamte Stadt einem Großbrand zum Opfer gefallen, und der anschließend erfolgte Wiederaufbau erfolgte im frühklassizistischen Stil, der Neuruppin absolut sehenswert macht. Zur Zeit sind umfangreiche Bestrebungen im Gange, die bisher gepflasterten Straßen an moderne Fortbewegungsmittel anzupassen, was wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen dürfte.
Schinkel steht jugendlich energisch auf seinem Sockel und sieht vor seinem geistigen Auge bereits die nächste architektonische Großtat Gestalt annehmen, während ein alternder Fontane reflektierend und an Worten feilend entspannt dasitzt und sich von seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg erholt.

Beim Rückweg vom Denkmal Fontanes passierte ich das Gymnasium, welches dieser besucht hatte. Gegenüber befindet sich eine Statue König Friedrich Wilhelms II, die von den Bürgern Neuruppins zum Dank an die von ihm nach dem großen Brand geleistete Unterstützung beim Wiederaufbau der Stadt errichtet wurde. Nach 1945 gab es für royalistische Verehrung keinen Bedarf mehr, und so wurde die Statue entfernt und durch eine wuchtige Büste von Karl Marx ersetzt. Die bisherige Friedrich-Wilhelm-Straße wurde entsprechend in Karl-Marx-Straße umbenannt. Nach der Wende verschwand Karl Marx wieder und wurde in einer Nebenstraße geparkt, während der alte König erneut auf sein Podest gehoben wurde. Allein, die Straße wurde nicht wieder umbenannt, was wohl ein Versuch war, die vorhandenen ideologischen Befindlichkeiten nicht allzusehr in Wallung zu bringen.
Die Büste steht an einer kleinen, gepflegten Grünfläche mit Springbrunnen, welche am gegenüberliegenden Ende von einem Denkmal zur Erinnerung an die Opfer des Faschismus begrenzt wird. Es hatte beinahe den Anschein, als ob hier ein Garten der Erinnerung errichtet worden war, um so manchem durch die Wiedervereinigung heimatlos gewordenen Bürger der DDR einen Raum der Besinnung an vergangene Ideale zu ermöglichen.
Und dann fragt man sich entsetzt, wie folgende Tat an eben dieser Stelle passieren konnte:
Ein Alleinstellungsmerkmal totalitärer Ideologien besteht darin, dass ihre Prediger glauben, die alleinige Wahrheit zu besitzen, die sie von Andersdenkenden -den ‚Feinden‘ – abgrenzt, die es zu vernichten gilt, da man davon ausgeht, sonst von ihnen vernichtet zu werden. Und das gilt gleichermaßen für die beiden Ränder des politischen Spektrums ebenso wie für religiöse Fanatiker aller Glaubensrichtungen. Es hat sich in den letzten Jahrhunderten wenig an menschlichen Handlungsweisen geändert…
Bedrückt ging ich zurück zur NC, stieg auf und fuhr zur großen Backsteinkirche St. Trinitatis am Seeufer. Die Kirche wurde Mitte des 13. Jahrhunderts als Herzstück eines Dominikanerklosters gegründet, von wem-sonst-als-Schinkel 1836-41 erneuert und 1907 mit einem Turmpaar versehen. Neben dem kreuzrippigen Hallenbau sticht besonders das gotische Altarrelief ins Auge, das den Bildersturm der Reformation offensichtlich gut überstanden hat.

Zwischen Kirche und Seeufer steht eine gewaltige, 700 Jahre alte Linde, die wohl auf dem Grab des Klostergründers, Wichmann von Arnstein, gepflanzt worden war.
Daran anschließend findet sich ein Metallgeflecht voller Vorhängeschlösser, das sich als Empfehlung für Stadtverwaltungen eignen könnte, die regelmäßig diese Hinterlassenschaften verliebter Mitbürgerinnen und Mitbürger von Brückengeländern sägen müssen. Ob die daran hängende Kette als Zeichen verlorener Freiheit gelten soll, sei wohlwollend dahingestellt.

Nach diesem längeren Aufenthalt in Neuruppin machte ich mich auf den Weg nach Rheinsberg, dem so stark zuerst von Kronprinz Friedrich und danach von seinem jüngeren Bruder Heinrich geprägten Ort preußischer Hofhaltung. Das friderizianische Rokoko fand mit dem Schloss Rheinsberg seine erste Ausprägung und wurde später im Schloss Charlottenburg und in Sanssouci zu ihren Höhepunkt geführt.
Das schöne Wetter hatte zahlreiche Biker auf die Straßen gelockt, die gerade Mittagspause in der an der Kreuzung gelegenen Gaststätte machten, denn die Statue des Kronprinzen Friedrich war von Motorrädern umgeben, von denen manche modernen Schlachtrössern glichen. Und damit waren sie beim späteren Alten Fritz ja bestens aufgehoben.
Das Schloss Rheinsberg und seine idyllische Gartenanlage ist auf alle Fälle einen Besuch wert und kann nur wärmstens empfohlen werden.

Von Rheinsberg aus machte ich mich auf den Weg durch den Naturpark Stechlin-Ruppiner Land Richtung Mirow und querte die Landesgrenze zu Mecklenburg-Vorpommern auf einer dieser schönen, versteckten Straßen im Nirgendwo. Vom schönen Wetter, den grünen Wäldern und den glitzernden Seen links und rechts der wenig befahrenen und bestens ausgebauten Straße beschwingt, rollte ich fröhlich dahin, als sich diese urplötzlich und ohne Ankündigung in eines dieser elenden Pflasterstraßenmonster verwandelte. Der Adrenalinschub war gewaltig, als die Stoßdämpfer durchschlugen und mein Vorderrad zu tanzen begann. Ich konnte die NC zwar rasch beruhigen, aber die 50 Meter, die es benötigte, die Geschwindigkeit von 80 km/h auf sichere 20 km/h zu reduzieren, war ziemlich pulsbeschleunigend.
Mein mit Ungnade bedachtes Navi war schon wieder eifrig bestrebt mich in alle möglichen Richtungen zu lenken, aber nur nicht nach Röbel an der Müritz, das ich als nächste Station vorgemerkt hatte. Ich hielt an und verstaute diese Quelle der unausgesetzten Irritation in meinem Tankfach und ließ es dort seinen Weg im Dunkeln finden. Aus dem Auge, aus dem Sinn. Ab jetzt waren wieder die guten, alten Hinweisschilder am Straßenrand meine Wegweiser, und diese brachten mich auch ohne weitere sinnentleerte Umwege ins wunderschöne, von mittelalterlicher Bausubstanz nur so strotzende Röbel.
Vor der Nikolaikirche hielt ich an und ging an der dicken Friedenseiche vorbei, die 1816 zu Erinnerung an die in den Freiheitskriegen gegen Napoleon Gefallenen gepflanzt worden war, zum mit einem Hinweisschild ‚Offene Kirche‘ versehenen Eingangstor. Der Innenraum ist neugotisch restauriert und einen Besuch absolut wert.
Um die Kirche herum befindet sich eine Reihe von alten Fachwerkbauten, und von der Straße aus macht die große Mühle auf sich aufmerksam, auf deren Hügel die erste, ursprünglich slawische Siedlung lag. Anfang des 13. Jahrhunderts wurde im Zuge der deutschen Ostsiedelung neben dieser Neu-Röbel gegründet. Im Laufe der Zeit gingen die slawischen Bewohner in der deutschen Bevölkerung auf, und die beiden Ortsteile Alt- und Neu-Röbel verschmolzen miteinander.
Die nette Dame an der Kirche hatte mir gesagt, dass es sich lohnen würde, bei dem heutigen schönen Wetter eine Kirchturmbesteigung der Marienkirche in Alt-Röbel zu machen, da die Aussicht auf die Müritz vom 58 Meter hohen Turm sicherlich grandios sei. Das nahm ich gerne auf und fuhr dorthin. Abgesehen davon, dass auch diese Kirche in ihrer neugotischen Schlichtheit eine Augenweide ist, so war doch schon allein der Aufstieg im Turm einen Besuch wert. Eine ausgetretene, enge Backsteinwendel-treppe und später steile, knarrende und filigran wirkende Holztreppen führten an den Glocken vorbei zu einem Raum, der sich direkt unterhalb der Turmuhr befand. Es dauerte ein paar Minuten bis ich das regelmäßige, laute und seltsam knarzende Geräusch mit dieser in Verbindung brachte. Durch vier Türen tritt man auf eine schmale Balustrade, von der aus man einen wunderbaren Blick auf die Müritz und Umgebung werfen kann. Beeindruckend und absolut empfehlenswert!
Hier ein paar Bilder der Marienkirche, vom Aufstieg, vom Rundblick (das Panaromabild kann zum Vergrößern angeklickt werden) und schließlich wieder vom Abstieg. Trotz dicker Motorradkluft und klobiger Stiefel war es ein Genuss von Anfang bis Ende!




Von Röbel aus fuhr ich weiter Richtung Waren. In Klink hielt ich kurz an, um dem Schlosshotel einen Besuch abzustatten und mir ein paar Prospekte mitzunehmen, da ich vorhabe, mal mit Beate ein nettes Wochenende dort zu verbringen. Mein schwarzer Motorradanzug mit knallgelber Neonwarnweste löste beim Mitarbeiter im Eingangsbereich Stirnrunzeln aus, doch hatte er auf meine höfliche Frage hin, ob ich einen kurzen Blick auf die Schlossterrasse werfen könne, keinerlei Einwände. Also marschierte ich dorthin, machte ein Foto von der Müritz in ihrer ganzen Pracht und stapfte wieder hinaus.

Weiter ging es auf der stark befahrenen 192 nach Waren an der Müritz, dem touristischen Zentrum der Region. Ich hielt am Hafen an und da es mittlerweile 16 Uhr geworden war, und ich seit dem Frühstück nichts zu mir genommen hatte, ging ich zu einem trockengelegten Schiff, das in eine Fischbude umgewandelt worden war, und besorgte mir eine Portion Fish and Chips. Sie wurde frisch zubereitet, und ich setzte mich nach einer kurzen Wartezeit mit meinem dampfenden Essen auf eine der Bänke direkt an der Steinmole und genoss sowohl das Glitzern der Sonne in der Müritz als auch ein wahres Gedicht von Essen. Schlichtweg großartig! Aufgrund der tiefstehenden Sonne und des daraus resultierenden Gegenlichts war es leider nicht möglich Fotos vom See zu machen.
Nach erfolgter Stärkung machte ich mich auf zu einem Rundgang durch die Altstadt von Waren, die aufgrund der Lage und des mittelalterlichen Baubestandes sehenswert ist.

Es war spät geworden, und ich hatte noch 170 Kilometer bis nach Berlin hinter mich zu bringen, die ich möglichst entspannt fahren wollte. Es erschien mir am günstigsten zu sein, die 192 zurück bis nach Malchow zu fahren und danach der Autobahn bis Berlin zu folgen. Gesagt, getan. In Waren West tankte ich die NC nochmals voll und machte mich auf den Weg zurück. Bei Fehrbellin war der Himmel voller Zugvögel, die sich für ihre lange Reise sammelten. Massen von Graugänsen zogen in Keilformation vorbei, und die bedrückende Erkenntnis setzte sich langsam aber sicher durch, dass jetzt wohl bald die diesjährige Motorradsaison ein Ende haben wird.
Die Fahrt verlief ereignislos, und nach einem schönen Tag voller interessanter Eindrücke kam ich gegen 18 Uhr 30 und 360 Kilometern wieder zu Hause an.